Vor kurzem habe ich einen Nachrichtenbeitrag im Radio gehört, der mir zweierlei vor Augen geführt hat. Erstens: Selbst der öffentlich-rechtliche Rundfunk nimmt es im Umgang mit Quellen nicht immer so genau wie er sollte. Und zweitens: Politik und Wirtschaft haben längst die Deutungshoheit im Familiendiskurs inne. So hieß es in besagtem Nachrichtenbeitrag, die Kinderfreundlichkeit in Deutschland habe signifikant zugenommen. Begründung: Mütter würden sehr viel früher an ihren Arbeitsplatz zurückkehren als noch vor einigen Jahren. Quelle: Eine der Wirtschaft sehr nahestehende Stiftung.
Die im Beitrag aufgestellte Behauptung ist ein klassischer Fall für gesellschaftspolitischen Irrsinn. Und nebenbei auch unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten Humbug. Wer das Konstrukt Kinderfreundlichkeit untersuchen will und dafür ausschließlich den Indikator der Mütter-Erwerbstätigkeit heranzieht, ist entweder ignorant oder will seinem Auftraggeber einen Gefallen tun. Kinderfreundlichkeit hat für mich in erster Linie etwas mit der Einstellung gegenüber Kindern zu tun. Sind sie willkommen oder werden sie als Störfaktor empfunden? Ist ihr Wohl der Gesellschaft etwas wert? Wollen wir sie in unserer Mitte haben, oder sehen wir in ihnen lediglich künftige Rentenbeitragszahler? Kinderfreundlich ist es, Schwangeren einen Sitzplatz in der U-Bahn zu überlassen. Kinderfreundlich ist es, Eltern-Kind-Parkplätze auch wirklich Eltern mit Kindern zu überlassen. Kinderfreundlich ist es, sich über einen Kindergarten in der Nachbarschaft zu freuen. Kinderfreundlich ist es, Mütter mit kleinen Kindern am öffentlichen Leben teilnehmen zu lassen und sie nicht aus Egoismus zu vertreiben (siehe Artikel in der Süddeutschen Zeitung "Vorsicht, Platzhirsch" ). Ich kann mich meines Eindrucks nicht erwehren, dass die Kinderfreundlichkeit in diesem Land nicht besonders ausgeprägt ist. Daran werden Tausende Krippenplätze und der Ausbau der Ganztagesschulen gar nichts ändern. Beide Maßnahmen erfreuen allerdings Politik und Wirtschaft. Die halten nichts davon, dass Mütter und Väter ihre Kinder selbst aufziehen. Die brauchen die Fachkräfte und die Sozialabgaben. Mit Kinderfreundlichkeit hat das meiner Ansicht nach nicht das Geringste zu tun.